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© 2005 Thomas Bertow

Die Erschliessung Sibriens in seinen einzelnen Etappen

Sibiriens vor dem "Einfluß" der Russen

Sibirien war schon seit langem vom Menschen besiedelt. Archäologische Funde weisen darauf hin, daß schon im Paläolithikum zahlreiche Siedlungen von Jägern und Fischern am Jenissey, Selenga, Angara und Lena bestanden. In nördlicheren Gebieten verzögerte sich das Vordringen des Menschen um mehrere Jahrhunderte. Das rauhe Klima, Sümpfe, undurchdringliche Wälder und die daraus resultierende mangelnde Möglichkeit für den Ackerbau und die Viehzucht verhinderten die frühzeitige Besiedelung. Bis der Mensch dann – nach Norden vorrückend - den Arktischen Ozean erreichte, vergingen noch viele Generationen. Die Stämme im Süden lebten von der Jagd und dem Fischfang und machten sich auch die nomadische bzw. halbnomadische Viehzucht zu nutze, welche sich langsam entwickelte. Später entdeckte man die Vorzüge der Erz- und Metallgewinnung. Im Norden waren die Stämme weit weniger entwickelt. Man hielt sich Rentiere und jagte auch hier. Die vor dem Erscheinen der Russen lebenden Völkerschaften in Sibirien verteilten sich über ein riesiges Territorium (12,7 Mio. Quadratkilometer). Schätzungsweise waren es 240000 Menschen zwischen dem Ural und dem Stillen Ozean. Im Durchschnitt lebte also ein Mensch auf einer Fläche von etwa 53 Quadratkilometer. Die ansässige Wirtschaft zeichnete sich durch einen niedrigen Entwicklungsstand der Produktivkräfte aus. Außerdem war eine primitive extensive Wirtschaft vorherrschend. Man beschränkte sich größtenteils auf die einfache Aneignung fertiger Naturprodukte. Die Tataren, Burjaten, Jakuten und Zungusen waren die zahlenmäßig stärksten Völkerschaften. Das Lebensniveau war äußerst gering und sicherte unter den rauhen Naturbedingungen kaum das Überleben.

Aufkommendes Interesse für Sibirien

1558 herrschte im damaligen Russland akuter Pelzmangel. Die Preise schossen folglich in die Höhe. In den 1570igern waren die Pelztierarten im Norden Russlands wegen der ungebremsten Jagd nahezu ausgerottet. Man brauchte schließlich Geld um den Livländischen Krieg zu finanzieren. Die Lösung um aus dem finanziellen Engpaß herauszukommen hieß Sibirien. Was Rußland im Moment am dringendsten benötigte, besaß Sibirien im Überfluß. Man bezeichnete die Pelze schon damals als weiches Gold. Es wurde nun ein regelrechter Pelzrausch (vergleichbar mit dem Goldrausch in Alaska) ausgelöst. Mit etwas Glück konnte man innerhalb einer Saison ein reicher Mann werden. Die Jagdgründe wurden schnell überbeansprucht. So trieb es die Jäger immer weiter gen Osten. Von den Eingeborenen erzwang man oft mit Waffengewalt Pelztribute. Die Jäger, Entdecker und Pioniere schwärmten in die entferntesten Winkel aus. Die Natur hatte schnell ihr nachsehen. Die nachströmenden Siedler rodeten Wälder und viele Pelztiere wurden aus ihren angestammten Lebensräumen vertrieben. Entlang der Flüsse Tunguska und Jenissey war der Zobel schon um 1620 'zu Tode gejagt'. In Büchern ließt man auch öfters sinngemäß den folgenden Satz: ' Nie zuvor in der Weltgeschichte haben so wenige so viel Land erobert. '

Erschließung Sibiriens im 20. Jahrhundert

Bis auf die frühe Ausbeute von Pelzen, Flußperlen, Mammutstoßzähnen und den ganzen anderen zahlreichen Schätzen, die Sibirien bot, geschah bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht besonders viel in Sibirien. Selbst die Schwarzerdegebiete waren nur dünn besiedelt. Abgesehen von der „Urbevölkerung“ lebten hier bisher nur politisch Verbannte, aus der Leibeigenschaft entflohene Bauern oder auch Glaubensflüchtlinge. Durch die Flucht in den Osten entzog man sich so dem Schutz Moskaus und der Zaren. Im Osten gab es keine staatliche Kontrollen und auch keine Leibeigenschaft. Sibirien galt bald als Land der Freiheit. So entstand der auch noch heute bekannte Ausspruch: „Sibirien ist groß und Moskau ist fern“. Erst 1889 begann die planmäßige Kolonisation Südsibiriens und ab 1921 wurde die gesamte Erschließung zentral gelenkt - und ist bis heute auch noch nicht abgeschlossen. Der wohl wichtigste Grundstein für die Erschließung Sibiriens wurde mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn (kurz: Transsib) gelegt. Nachdem man schon 1891 mit dem Bau begann, konnte man sie dann 1916 in Betrieb nehmen. Mit dieser Bahnstrecke wurde die Voraussetzung für ein landwirtschaftliches und industrielles Wachstum geschaffen. Nach der „Großen“ Oktoberrevolution (und dem Ende des Ersten Weltkrieges) und der Beendigung des anschließenden Bürgerkrieges aus dem die Bolschewisten und die Rote Armee als Sieger hervorgingen, war es erst einmal Aufgabe der Bolschewisten das Land neu zu organisieren. Die Wirtschaft war gelähmt und die Infrastruktur zusammengebrochen. In Sibirien lag die Landwirtschaft brach, Bergwerke waren verwaist und Straßen- und Eisenbahn schwer beschädigt. Nun kann man in vielen sozialistischen Büchern von zahlreichen „tollen“ Programmen lesen, welche durchgeführt wurden, um die zum Teil utopischen Ziele des Wiederaufbaus und Weiterentwicklung der Industrie und auch die Erschließung Sibiriens zu verwirklichen. Doch deren Wahrheitsgehalt ist äußert fraglich. In diesem Zusammenhang sei nur einmal der GOELRO-Plan erwähnt. Dieser Plan geht auf Anregungen Lenins (Wladimir Iljitisch Uljanow) zurück und beinhalteten die Vorstellungen von einer komplexen territorialen Entwicklung, Strukturierung und Organisation der Volkswirtschaft des Landes. 1920 entwickelten 200 Wissenschaftler diesen Plan, der als wichtige Punkte die Elektrifizierung durch stützpunktartige Elektrokraftwerke, den ersten langfristigen einheitlichen Volkswirtschaftsplan der Geschichte, und die Erhöhung der Arbeitsproduktivität enthielt. Zu diesem Zwecke sah man den Bau von Wärme- und Wasserkraftwerken, die vollständige Nutzung der örtlichen Rohstoff- und Energieressourcen und die Erschließung der östlichen Landesteile als wesentlichen Element vor. Die Voraussetzungen war bei weitem nicht die besten. Lenin warnte deshalb vor dem Nachjagen einer „bürokratischen Utopie“. Seiner Meinung nach wäre es erst einmal das Wichtigste, ein Minimum an Betrieben herauszugreifen und sie in Gang zu bringen. So bestand der erste Schritt in der Wiederherstellung des Entwicklungsniveaus von 1913 und der Entwicklung der Landwirtschaft. Die erste Welle der wirtschaftlichen Entwicklung Sibiriens unter sozialistischen Vorzeichen besaß wesentliche landwirtschaftliche Orientierung. Die GOELRO-Kommission war von Beginn an der Elektrifizierung und Industrialisierung Sibiriens durch ihr Arbeitsprogramm interessiert. Anfangs konzentrierte man sich insbesondere auf Westsibirien (Uralgebiet). Der Schwerpunkt der Verwirklichung des GOELRO-Plans in Sibirien lag zunächst auf dem Kusnezkbecken und dem Altaigebiet. Die zweite Welle wirtschaftlicher Erschließung bezog umfangreiche Kohle- und Erzlagerstätten ein. Mit dem Tod Lenins 1924 kam Josef Wissarionowitsch Stalin (eigentlich Dshugaschwilli) an die Macht. Ein neuer Wind begann zu wehen. Stalin wollte ohne jede Rücksicht aus der agrarisch geprägten Volkswirtschaft einen zur Selbstversorgung fähigen Industriegiganten schaffen. In Fünfjahresplänen wurden unrealistisch hohe Arbeits- und Produktionsnormen festgesetzt. Trotzdem war Sibirien zuerst zweitrangig. Es trug nicht einmal 2 % zur russischen Industrieproduktion bei und erzeugte 1923 nur noch halb soviel wie noch vor 1917. Mit dem Aufbau bedeutender Industrien entlang der Transsib und der Erschließung des Kusnezker Kohlebeckens änderte sich dies schnell. Es entstanden riesige Hüttenkomplexe in Magnitogorsk und mehrere Wasserkraftwerke in Irkutsk. Für Sibirien war an erster Stelle die Ausbeutung der reichen Erzvorkommen bei Magnitogorsk im Ural und der Kohlelager des Kusnezker Beckens in Zentralsibirien vorgesehen. Stalin hoffte eine Eisen- und Stahlindustrie aus dem Boden stampfen zu können, die es mit den USA aufnehmen könne. 1928 war die Kohleförderung im Kusnezker Becken schon doppelt so hoch wie noch 1917. Dabei war die Erschließung Kusbass erst während des 1. Weltkrieges in Gang gekommen. Auch an vielen anderen Orten wurde der Abbau von Gold, Zinn, Wolfram, Molybdän sowie von Mineralien wie Glimmer und Flußspan vorangetrieben. Die Sowjetmacht investierte auch in den Ölfelder Nordsachalins, sowie in Hafenanlagen, in den Flugzeug- und Schiffsbau und in Rüstungs- und Munitionsfabriken. Man wollte die japanische Besatzungsmacht in der benachbarten Mandschurei (Nordostchina) im Auge behalten. Ein Fünfjahresplan folgte dem nächsten. So trieb Stalin das Industriezeitalter voran. Es entstanden zahlreiche Kraftwerke und Baumwollkombinate. Die Industrieproduktion Sibiriens stieg unaufhörlich. Die Bevölkerungszahlen sibirischer Städte verzweifachten bzw. verdreifachten sich. Die wichtigen Bodenschätze wurden in immer größeren Mengen gefördert. Man brachte es 1940 in Sibirien auf 3,2 Mrd. Kilowattstunden Strom, 1536 Tonnen Gußeisen, 2 Mio. Tonnen Stahl, 39 Mio. Tonnen Kohle und 51,9 Mio. Raummeter Holz. Den Preis für dieses Wachstum mußte die russische Landbevölkerung zahlen. Die Versorgung der Großstädte, Industriereviere und Fabriken mit Lebensmitteln funktionierte nicht. Es fehlte Stalin an Geduld. Er beschuldigte die Kulaken, Getreidevorräte zu horten. Stalin entsandte daraufhin Beschlagnahmtrupps um mit vorgehaltener Waffe zu holen, was zu holen war. Viele Bauern vernichteten daraufhin lieber ihr Hab und Gut anstatt es abzugeben. Stalin antwortete am 27. Dezember 1929 mit dem Beschluß „die Kulaken als Klasse zu liquidieren“. Diese „Liquidierung des Kulakentums“ traf gerade Sibirien von allen Landesteilen am härtesten. Dort waren die Bauern recht wohlhabend und boten den Parteiaktivisten dadurch eine Zielscheibe. Allein in den westsibirischen Bezirken wurden 43000 Familien (in Konzentrationslager oder in Siedlungen im äußersten Norden Sibiriens) „umgesiedelt“. Nach dem mühsamen Aufbau Sibiriens zu einem landwirtschaftlich leistungsfähigem Land, wurde jetzt die ganze Struktur ohne Rücksicht auf Verluste zerstört. Hunger breitete sich aus.

Die Zwangsarbeiter - ein wichtiges Element der Wirtschaft

Die Zahl der zu liquidierenden „Volksfeinden“ (Andersdenkende, Gegner des Systems und der Methoden) wuchs ständig. Jede verhaftete Person wurde gezwungen dutzende angebliche Komplizen zu denunzieren. Die ganze Sache hatte Methode. So besaß Stalin eine riesige Anzahl an Zwangsarbeitern, welche er unter widrigsten Bedingungen einsetzen und je nach Bedarf zu jedem Ort verlegen lassen konnte. Da es an finanziellem Kapital für Investitionen fehlte, konnte Stalin Menschen investieren. Das Arbeitslager wurde so zur wichtigsten Ressource des Staates. Sibirien, wie auch der Rest Rußlands, war bald mit Arbeitslagern übersät. Viele wurden aus scheinheiligen Gründen zur Zwangsarbeit verurteilt. Es konnte sich niemand sicher fühlen. Unter den vielen Verurteilten gab es auch welche, die nicht einmal den Weg in den Transportzügen zu den Lagern überlebten. Man wollte Devisen sparen, verzichtete deshalb auf Maschinen und setzte statt dessen menschliche Muskelkraft ein. Um die Zwangsarbeiter irgendwie zu motivieren und ihnen einen Produktionsanreiz zu geben, verteilte man die Lebensmitteln in den Lagern nach Leistung. So kam es, daß man Kranke und Schwache oft unter dem Existenzminimum versorgte. Der Stalin-Staat machte sich nicht nur die Muskelkraft der einzelnen zu nutze, er verdiente auch noch finanziell an den Gefangenen. Das gesamte Hab und Gut wurde von jedem eingezogen. Man kassierte das Geldvermögen und verkaufte die Sachgüter. Was Angehörige schickten (schicken wollten) wurde von der Geheimpolizei beschlagnahmt. Ein sowjetischer Autor schrieb einmal „die arbeitenden Menschen von Sibirien“ hätten allein in den Jahren des 2. Weltkrieges dem Staat Einnahmen von 13,5 Mrd. Rubel beschert, hinzukommen dann noch „riesige Mengen an Gold, Silber, Platin und Millionen kostbarer Wertgegenstände“. „Erfolge“ des Lagersystems: 1928: 30000 Lagerinsassen 1931: man brachte es schon auf knapp 2 Millionen Insassen 1934: die Zahl der Zwangsarbeitern in den Lagern erhöht sich um über das Doppelte auf 5 Millionen 1937/38: die Zahl der Insassen erhöht sich weiter bis auf 7 Millionen Nun war die sowjetische Wirtschaft auf die Verdammten als tragende Säule angewiesen. Die Zwangsarbeiter stellten zu dieser Zeit die zahlenmäßig stärkste Gesellschaftsklasse. Die Sträflinge mußten ihr Leben unter unmenschlichen Bedingungen fristen. Im Gebiet von Kusnezk in Westsibirien beispielsweise lebten die Sträflinge in mit Brettern zugedeckten Erdlöchern. Hinzu kommt dann noch das rauhe Klima Sibiriens. Daß die Leute Qualen erleiden mußten, kann man sich sicher gut vorstellen. In den ersten Jahren des 2. Weltkrieges wurden erneut etliche zwangsweise nach Sibirien umgesiedelt. Darunter waren verschiedene Minderheiten, deutsche und japanische Kriegsgefangene, Letten, Esten, Ukrainer, Wolgadeutsche und viele mehr. Zu dieser Zeit war es die Regel, daß die Mehrheit der sibirischen Bevölkerung in Lager- und Gefängniskomplexen bzw. hinter Stacheldraht lebte. Obwohl in sowjetischen und prosowjetischen Bücher oft die Rede von großen Leistungen beim Aufbau Sibiriens seit der Revolution die Rede ist (auch in westlichen Untersuchungen wurde so manche Leistung bewundert), sah die Wahrheit ganz anders aus. In den Büchern spricht man von „in die Wildnis gesetzten kompletten Städten“ und „explosivem Städtewachstum nach amerikanische Art“. Tatsache aber ist, daß man Zwangsarbeitslager mit mehr als 5000 Insassen als Stadt angesehen hat. Die am schnellsten wachsenden Städte fand man nicht in Industriezentren, sondern im äußersten Norden und Osten, wo man die meisten Arbeitslager errichtet hat. Selbst in den „richtigen“ Städten bestand der Großteil der Bewohner aus „Zwangsangesiedelten“. Die Zwangsarbeiter waren einfach überall am Werk. Beim zweigleisigen Ausbau der Transsib, bei den Ölpipelines von Sachalin zum Festland, beim Abbau verschiedener Erze, selbst (nach 1950) zur Gewinnung radioaktiver Metalle wurden sie eingesetzt. Stalin hatte zu jeder Zeit die Absicht, die Wahrheit über dieses straf organisierte System zu vertuschen. Die deutschen Nazis erkannten die Wahrheit und orientierten sich beim Aufbau der Konzentrationslager am sowjetischen Vorbild. Den Besuchern aus Amerika wurde stets was vorgespielt. Der Premierminister Anastas Mikojan meinte sogar einmal ganz dreist und unverfroren „es gebe in Rußland keine Lager und den Inhaftierten in Rußland gehe es so gut, daß die englischen und amerikanischen Arbeiter sie beneiden könnten“. Nach 1953 (nach dem Tod Stalins am 5.03.1953) kamen im Rahmen einer Amnestie zahlreiche Sträflinge auf freien Fuß. Nach Schätzungen soll es sich dabei um 8 von 12 Millionen Menschen handeln, die zu dieser Zeit im Lager waren. Während aber meist nur „gewöhnliche Kriminelle“ entlassen wurden, blieben die politischen Häftlinge dort. 1958 wurde das „Besserungslager“ offiziell abgeschafft. Doch das Arbeitslager blieb in modifizierter Form weiterhin Bestandteil des sowjetischen Strafvollzugs. Unter Chruschtschow wurde 1961 eine Verordnung über das „Parasitentum“ verabschiedet. Jeder, der länger als einen Monat keinen ordentlichen Beruf ausübt, konnte für 2-5 Jahre in eines der traditionellen russischen Verbannungsgebiete verwiesen und zu körperlicher Arbeit gezwungen werden. Eine Autor erkannte die Absicht. Er meinte dazu: „Diese Strafbestimmung sollte offensichtlich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Arbeitslosigkeit beseitigen, Arbeitskräfte in die entlegenen Gebiete bringen und Großstädte von ,antisozialen Elementen' säubern“. Mit dieser Verordnung stand immer nach eine praktische Handhabe zur Verfügung, um mit unbequemen Intellektuellen fertig zu werden (zum Glück nicht mehr so unbarmherzig wie früher). Bis zur Auflösung der Sowjetunion hatte man die Dissidenten1 immer verbannt. Unter Gorbatschow hat man in Großstädten sogar Betrunkene und Herumtreiber bei Razzien aufgegriffen, in Verfahren ohne Verteidiger und ohne Beweisaufnahme verurteilt und anschließend in ein Lager verwiesen. Trotzdem brachte es Gorbatschow 1990 zu der Großtat in einem Erlaß alle Rechte noch nicht rehabilitierter Opfer des stalinistischen Unterdrückungssytems wiederherzustellen. Im Zusammenhang mit diesem Lagersystem stößt man auch des öfteren auf das Wort GULAG. Diese Abkürzung steht für die russische Bezeichnung Glawnoje Uprawlenije Lagerej. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Hauptverwaltung des Straflagersystems von 1930-1955. Nach dem Tod Stalins wurde sie offiziell abgeschafft.

Die Zeit des Zweiten Weltkrieges

Zu Beginn des 2. Weltkrieges, als die Deutschen in die Sowjetunion einfielen, wurden in aller Eile die meisten große Industriebetriebe vom Donezbecken abgebaut und ins westliche Sibirien verlegt, um sie vor den Deutschen zu bewahren. Viele Facharbeiter gingen mit. Und so verwandelte sich das Kusnezker Becken in eine Rüstungsschmiede für die sowjetische Armee. Omsk, Nowosibirisk und viele andere Städte entwickelten sich zu wichtigen Industriezentren. Ein Großteil der Flugzeuge, Panzer, Traktoren, Treibstoffe und Feuerwaffen, Ersatzteile und Nachschubgüter kamen jetzt aus Sibirien. So wurde 1945 in Sibirien 21% des sowjetischen Stahl und 18% des Gußeisens erzeugt und 32% der gesamten Kohle gefördert. Als Stalin zum „Großen Vaterländischen Krieg“ ausrief, kamen auch Eingeborene an die Front. Die Sibirier zeichneten sich vor allem als Scharfschützen und Pfadfinder aus. So spielten sibirische Infanteristen eine große Rolle bei der Verteidigung Moskaus und in der Schlacht von Stalingrad. Die Jakuten erwiesen sich sogar unter härtesten Bedingungen als kampf- und nervenstark. Es war von großem Vorteil für die Sowjets, daß Sibirien zu keinem Zeitpunkt selbst Kriegsschauplatz war.

Die Juden und Sibirien

Die Judenverfolgung gab es nicht nur in Deutschland. Auch Stalin versuchte Zeit seines Lebens die Juden „bei Seite zu schaffen“. Die Juden sollten mehr oder weniger freiwillig nach Sibirien umgesiedelt werden. Stalins Versuch einen großen Teil der jüdischen Gemeinde Rußlands in eine freiwillige sibirische Verbannung zu locken, scheiterte. So griff Stalin zur Gewalt. Die „Ärzteverschwörung“ von 1953 bildete den nötigen Vorwand für eine neue Säuberung. Mitstreiter Stalins behaupteten, daß eine Reihe hochrangiger Ärzte (überwiegend Juden) 1948 den Chef der Leningrader Parteiorganisation, Adrej Schdanow, umgebracht und die Ermordung von Partei- und Staatsführern, darunter auch Stalin, geplant hätten. Um die Juden vor dem Volkszorn zu retten, kam die Behörden „glücklicherweise“ auf die Idee Juden in sibirische „Reservate“ umzusiedeln. Die Ärzteverschwörung war im eigentlichen Sinne aber nur ein Signal zur offenen Diskriminierung und Pogromen. Schon 1951 wurden 50000 Juden an die Lena deportiert. 1952 kamen die ersten Transporte in Tajschet an. Die Juden wurden aus sämtlichen Behörden und Fabriken entlassen und aus den Universitäten und Berufsschulen verwiesen. Der Tod Stalins 1953 bewahrte die Juden vor schlimmeren.

Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde einige der nach Sibirien verlegten Industrien an ihren ursprünglichen Standort zurückgebracht. Für Städte wie Omsk oder auch Nowosibirsk war dies ein vorübergehender Rückschlag. Die Zwangsarbeit unter Stalin war nach dessen Tod stark eingeschränkt. Sibirien mußte sich umstellen und seine Wirtschaft nun auf freie Arbeiter stützen. Man begann Anfang der fünfziger Jahre mit dem Bau mehrerer riesiger Staudämme und Wasserkraftwerke entlang der Angara und dem Jenissej. In Bratsk beispielsweise erbauten 54000 Menschen in 13 Jahren das bis dahin größte Wasserkraftwerk des Landes. Weitere ehrgeizige Vorhaben folgten. Man baute ein noch größeres Wasserkraftwerk in Krasnojarsk, welches mit über 200 Tonnen schweren Turbinen ausgestattet war. Neu entdeckte Erdöl- und Ergasvorkommen im westlichen Sibirien wurden erschlossen. Man gründete neue Unternehmen, welche dem Export und der Energieversorgung des europäischen Rußland dienten. Zur Mitte der 70iger stellte man sich zwei große Aufgaben: Die Erschließung der umfangreichen Braunkohlevorkommen des Kansk-Alschinko Beckens und den Bau der Baikal- Armur- Magistrale (BAM).

Die Baikal-Armur-Magistrale (BAM)

Die BAM sollte die Verbindung zwischen den mit Bodenschätzen gesegneten Gebieten Ostsibiriens und den Exporthäfen im Fernen Osten herstellen. So stellte die BAM beinahe eine zweite Transsib dar. Die Strecke der BAM verlief nördlich des Baikalsees 3000 km weit nach Komolsk am Armur. Man hatte schon in den 30iger Jahren den Bau mit Hilfe von Zwangsarbeitern in Angriff genommen, jedoch erst 1974 wiederbelebt. Bei dieser Wiederbelebung spielten auch militärische Überlegungen eine Rolle, da die Transsib durch China leicht angegriffen werden konnte. Letztendlich entscheidend und ausschlaggebend waren dennoch die wirtschaftlichen Gründe. Die Transsib war bis dahin die am dichtesten befahrene Bahnstrecke der Welt und sollte so entlastet werden. Außerdem sollte der Zugang zu den unerschlossenen Vorkommen strategischer Minerale und fossiler Brennstoffe im Boden Ostsibiriens erleichtert werden. Die BAM wurde damals als Heldenprojekt gefeiert. Man steckte 25 Milliarden Dollar in den Bau. Die Strecke führt, ähnlich wie die der Transsib, durch Gelände, welches zu den schwierigsten der Welt gehört. 1984 vollendete man dann den Bau schließlich. Befahrbar war die Strecke dann erst ab 1989, weil Ausbesserungsarbeiten nötig geworden waren. Doch leider erfüllt die Bahn nach ihrer Fertigstellung kaum einen nützlichen Zweck. Zur sinnvollen Nutzung fehlt es an der nötigen Infrastruktur. Die geplante 45 Städte, Siedlungen und Industriekomplexe an der neuen Strecke waren noch nicht fertig. Erst das Kohlebergbaurevier von Neryungri brachte durch eine nördliche Stichbahn - die kleine BAM - einen wirtschaftlichen Nutzeffekt. Es war ursprünglich geplant mit Hilfe der BAM die ganze Region (den Norden und Fernen Osten) besser zu erschließen und wirtschaftlich zu entwickeln. Dinge wie Kohle, Holz, Kupfer, usw. sollten mit ihr transportiert werden. Doch jetzt will keiner mehr haben was es hier gibt. Asuländische Investoren und Vertreter anderer Länder, welche nötig wären um Industriebetriebe und Bodenschätze zu erschließen fehlen. Es müßte langsam was passieren, solange die Leute noch vorhanden sind, die damals zum Bau der BAM „angelockt“ wurden. Ein zweites Mal, so meinen die Bewohner der Region, wäre es nicht möglich so viele Leute „anzusiedeln“. Wird die Strecke in Zukunft nicht ausreichend genutzt, droht unausweichlich ihr Zerfall.

TPKs-Territoriale Produktionskomplexe

Ende der 1960iger bzw. Anfang der 1970iger begann man mit dem Errichten der ersten territorialen Produktionskomplexe (TPKs). Die sowjetischen Planer waren der Meinung, daß sie am besten für die Erschließung der weiten und menschenarmen Gebiete Sibiriens geeignet sind. Tatsache ist, daß die TPKs für die Förderung der regionalen Energiewirtschaft und Industrie wichtig sind. Einige sind teilweise größer als die Bundesrepublik Deutschland. Jeder TPK strebt eine sinnvolle Selbstversorgung mit Industrieprodukten und Nahrungsmittel an, um unnötige Transporte zwischen den einzelnen TPKs zu vermeiden. Jeder TPK hat einen bestimmten wirtschaftlichen Schwerpunkt, der von den vorliegenden Naturressourcen abhängt. Dieser Schwerpunkt macht auch den Unterschied zwischen den einzelnen TPKs aus. Dadurch erzielt man eine überregionale Arbeitsteilung. Innerhalb der TPKs arbeiten die Betriebe wiederum zusammen. Diese Verbindung nennt man dann Kombinate. So beutet man im TPK Südjakutien die riesigen Steinkohlevorkommen aus und weniger als 100 Kilometer entfernt nutzt man das vorhandene Eisenerz. Beides zusammen könnte in naher Zukunft ein neues Zentrum der Hüttenindustrie darstellen. In den 60ziger Jahren entstanden weitere Abzweigungungen der Transsib und auch eine weitere Bahnlinie quer durch den nördlichen Ural. Jakutsk wurde durch ganzjährig befahrbare Straßen an die Transsib angeschlossen.

Sibirien heute - Der Alltag

Die Nordostpassage als Seehandelsweg ist leider nur 3 bis 4 Monate befahrbar. Da nützen auch die vorhandenen sechs nuklearen und dutzende konventionelle Eisbrecher nichts. In Ulan Ude - Hauptstadt der Burjatischen Republik - steht heute die größte Lokomotiven- und Waggonfabrik Sibiriens. Transbaikalien verfügt über riesige Bauxitvorkommen, das Ausgangsmaterial für die Aluminiumverhüttung und - herstellung. An den Ufern des Flusses Bargusien ist man auf Goldadern gestoßen. Im Gebiet um Tschita schürft man heute Silber. In Transbaikalien gibt es auch blühende Getreidefelder sowie weidende Rinder, Schafe und Ziegen. Vor der Pazifikküste trifft man auf üppige Fischgründe (Lachs, Hummer, Kabeljau, Krabben). Vor der Nordostküste Sachalins werden allmählich die ergiebigen Erdöl- und Erdgasvorkommen erschlossen. Außerdem ist die Insel mehr als zu Hälfte mit Wald bedeckt dessen Holz man zu Zellulose weiterverarbeiten kann. Norilsk im MärzDie sibirische Stadt Norilsk ist die nördlichste Industriestadt der Welt. Das dortige Berbau- und Metallkombinat veredelt Kupfer, Nickel, Kobalt, Platin und andere strategische Metalle. Dabei verwendet man zum Teil modernste Technik. Die Stadt wurde durch sowjetische Planer geplant. Die Bauwerke wurden auf Betonpfeiler gegründet. Es gibt Zentralheizung, fließend warmes und kaltes Wasser, was sonst nördlich des Polarkreises nicht unbedingt üblich ist.. Fünfzig große Unternehmen haben sich in Norilsk angesiedelt. Es ist auch eine Wissenschaftsstadt. Man trifft auf verschiedenste Forschungseinrichtungen wie etwa das Institut für Landwirtschaft des Äußersten Nordens oder auch das Laboratorium für Polarmedizin. Auch heute noch ist der Zobel der wertvollste Pelz der Welt und so spielen sibirische Pelze eine wichtige Rolle im internationalen Pelzgeschäft. Die Pelztiere zu erbeuten ist aber heute die Aufgabe lizenzierter Berufsjäger, die ihre Beute regelmäßig in Sammeldepots abliefern müssen. Leider fehlt es oft noch an den modernen Arzneimittel aus russischer Produktion. So wird nicht selten auf „Gulag-Hausmittel“ zurückgegriffen. Aus rohen Kartoffeln knetet man beispielsweise Zäpfchen gegen Hämorrhoiden. Sauerkrautumschläge setzt man gegen die Migräne ein. Der gute alte Wodka wird als Allzweckmittel zur Bekämpfung von jeder Art Bakterien eingesetzt und der Zucker sogar als Universalmittel gegen Vergiftungen aller Art. Der Alkoholgehalt des Wodkas ist im übrigen auch übereinstimmend mit dem Breitengrad. Es hat sich zur sibirischen Tradition entwickelt, daß der Alkoholgehalt nach Norden zunimmt. Sollte der Wodka einmal alle werden, dann nimmt man auch schon mal Terpentin oder Frostschutzmittel zu sich („In der Not frißt der Teufel Fliegen“). Die täglichen Fernzüge sind ständig ausgebucht. Es bilden sich deshalb regelmäßig lange Schlangen in den Schalterhallen der Transsib. Fragt man die ansässigen Leute zum Thema Bildung, meinen sie, daß es mehr oder weniger alles besser wird. Die Leute haben sich an die Situation gewöhnt. Rußland ist groß. Es dauert, aber alles wird gut. Schlecht geht es den Rentnern. Die Rente ist niedrig und man kann froh sein, wenn man überhaupt eine erhält. Probleme besitzen die Leute Sibiriens auch mit ihrem Gehalt. Oft bleibt es mehrere Monate aus. Der Nordzuschlag auf die Gehälter gibt es auch schon längst nicht mehr. Doch damit nicht genug. Die Gehälter werden trotzdem noch weiter gesenkt. Diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten lassen die Leute an eine Heimkehr zu ihren ursprünglichen Wohnorten denken. Doch ist es schwer aus dem vorhandenen Teufelskreis auszubrechen. Für eine Wohnung im Westen braucht man Geld. Leider verdient man hier nichts. Und so bleibt einem nichts anderes übrig als doch zu bleiben. Und man mag es kaum glauben, trotz zum Teil großer Lebensmittelvorräten müssen viele Menschen in Sibirien hungern, weil sie einfach das Geld für die teuren Lebensmittel nicht haben. Diese Leute sind auf internationale Unterstützung, wie beipielsweise das Rote Kreuz angewiesen.